Kriegstreiber Türkei Bergkarabach-Konflikt

Politik

In den frühen Morgenstunden des 27. Septembers hat die aserbaidschanische Armee die armenisch kontrollierte Region Karabach mit Artillerie und Bomben angegriffen.

Zerstörte Panzer in Bergkarabach, April 2005.
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Zerstörte Panzer in Bergkarabach, April 2005. Foto: Nicholas Babaian (CC BY-SA 2.0 cropped)

1. Oktober 2020
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Armenien hat den Kriegszustand ausgerufen und eine Generalmobilmachung angekündigt. Ein nicht unwesentlicher Grund für das Aufflammen dieses Jahrzehnte andauernden Konflikts ist die neo-osmanische Grossmachtpolitik der Türkei. Die Erinnerung an den Krieg zwischen 1988-1994, in dem 30.000 bis 50.000 Menschen starben und Armenien nicht nur Karabach selbst, sondern auch einige umliegende Provinzen unter seine Kontrolle brachte, ist frisch

Armenien und Aserbaidschan wurden Anfang der 1920er Teil der neu geschaffenen Sowjetunion und es war kein geringerer als Josef Stalin, der 1921 das Gebiet Karabach der Aserbaidschanischen Unionsrepublik zuteilte, obwohl zu dem Zeitpunkt über 90 Prozent der Bewohner*innen Armenier*innen waren. Infolge des Zerfalls der UdSSR ab dem Ende der 1980er Jahre kam es auch in Karabach zu einer Unabhängigkeitsbewegung.

Bei einem Volksentscheid 1991 sprach sich eine Mehrheit für eine Unabhängigkeit von Aserbaidschan aus.. Da Baku diesen Entscheid ignorierte, intensivierte sich der Krieg um das Gebiet, das die Armenier*innen Arzach nennen, ehe am 12. Mai 1994 ein brüchiges Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde.

Seitdem gibt es immer wieder Scharmützel an der Grenze, wobei im April 2016 Aserbaidschan einen grösseren Anlauf tätigte, das Gebiet zurückzuerobern. Der Angriff wurde seitens Armeniens zurückgeschlagen, aber innerhalb von nur vier Tagen gab es über 200 Tote. Armenien und Aserbaidschan pflegen bis heute keine diplomatischen Beziehungen, die Grenzen untereinander sind geschlossen.

Die Türkei stilisiert sich dabei als Schutzmacht Aserbaidschans und hält die Grenze zu Armenien ebenfalls geschlossen. Armenien selbst zählt Russland zu seinen engsten Verbündeten. Moskau hat in Armenien sogar einen eigenen Militärstützpunkt und grossen Einfluss auf die armenische Wirtschaft, besonders im Energiesektor mit dem teilstaatlichen Konzern Gazprom. In gewisser Weise ist der Konflikt auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Moskau und Ankara. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow führt mit beiden Seiten intensive Gespräche und forderte zur Einhaltung des Waffenstillstands auf, während die türkische Regierung einmal mehr versicherte, fest an der Seite Aserbaidschans zu stehen.

Kriegstreiberin Türkei

Eine der Ursachen für das Wiederaufflammen des Krieges sind der innenpolitischen Schwäche des Erdogan-Regimes geschuldet. Geschwächt von dem Niedergang der heimischen Wirtschaft, reagiert die türkische Regierung nach aussen hin immer aggressiver und heizt seit Wochen den Konflikt immer weiter an. Als es im Juli dieses Jahres zu militärischen Auseinandersetzungen in der nordarmenischen Provinz Tavush kam, gab es besonders schrille bellizistische Töne seitens des türkischen Verteidigungsministers, Hulusi Akar: “Armenien wird unter seiner eigenen Verschwörung begraben werden, darin ertrinken und für seine Taten auf jeden Fall bezahlen”.

Diese Intervention der Türkei im Nachbarland ist nichts Neues. Schon die Regierung unter Turgut Özal (1989 -1993) spekulierte öffentlich, an der Seite Aserbaidschans zu intervenieren und Armenien zu bombardieren. Mitten im Krieg 1993 drohte er offen damit,“für den Fall, dass Armenien die Lektion von 1915 nicht verstanden” hätte – eine unmissverständliche Anspielung auf den von der damaligen jungtürkischen Regierung verübten Genozid, dem Schätzungen zufolge mehr als 1,5 Millionen Menschen zu Tode kamen, hauptsächlich Armenier*innen, aber auch Assyrer*innen und Mitglieder anderer christlicher Minderheiten.

Heute ist es Reçep Tayyip Erdogan, der bei der jüngsten kurzzeitigen militärischen Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan im Juli 2020 offen mit weiteren Massenmorden drohte: “Wir werden die Mission fortführen, die unsere Grossväter seit Jahrhunderten im Kaukasus angeführt haben.”

Wie Erdogan sich die“Fortführung der Mission” vorstellt, kann mensch darin sehen, dass er am 25. September rund 1000 dschihadistische Kämpfer nach Baku schickte, die fortan gegen Armenien kämpfen.. Dass die Türkei islamistische Söldner einsetzt ist dabei weder neu, noch überraschend:Der kurdische YPG-Kämpfer Azad Cudibeschreibt beispielsweise in senem Buch wie er in Kobanê die Herkunft der verstorbenen IS-Kämpfer recherchierte.

Er stellte fest, dass nicht wenige der dschihadistischen Mörder gar keine Syrer oder Iraker waren, sondern ausländische Söldner aus Tschetschenien oder Turkmenistan. Die gleiche Erfahrung machte 20 Jahre vorher schon Monte Melkonian, als er im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan die Pässe der getöteten Kämpfer aufseiten Bakus untersuchte: Viele kamen aus der Türkei, aus Tschetschenien oder Turkmenistan. Sie waren bezahlte Söldner, unter anderem Graue Wölfe, deren Kämpfer von der türkischen Regierung nach Karabach geschickt wurden, um Armenier*innen zu ermorden und ihrerseits den Genozid von 1915 fortzusetzen.

Azerbaidschan intensiviert die Angriffe

Während der aserbaidschanische Angriff auf Tavush im Juli dieses Jahres eher unkoordiniert und schlecht vorbereitet war, gab es seitdem gemeinsame Militärübungen mit der Türkei in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan, die an Armenien, die Türkei und den Iran grenzt, aber nicht an Aserbaidschan. In dieser Autonomen Republik Nachitschewan hat die Türkei einen Militärstützpunkt aufgebaut. Es gibt keine Zweifel daran, dass der jetzige Angriff besser vorbereitet ist und grossflächiger ausgeführt wird.

Über Wochen hinweg wurde Aserbaidschan von der türkischen, aber auch der israelischen Regierung massiv hochgerüstet, sodass es nur eine Frage der Zeit war, wann es zu diesem Angriff kommen würde. Die Türkei versucht mit Aserbaidschan eine panturkistische Allianz aufzubauen und es ist kein Zufall, dass Erdogan auf diese Karte setzt. Da die muslimische Bevölkerung Aserbaidschans zu 85 Prozent schiitisch ist, passt das eigentlichnicht in das Bild des sunnitischen Islamisten Erdogan. Aber es passt ins Bild der nationalistisch-kemalistischen CHP, deren Vorsitzender Muharrem Ince sagte: “Mein Herz, meine Seele, meine Gebete sind bei Aserbaidschan und verurteilen die Aggression Armeniens, die die Stabilität der Region bedroht.”

Das sind fast die gleichen Worte, die auch Erdogan benutzte. Es zeigt sich, dass die bürgerlichen Parteien in der Türkei felsenfest zu jeglicher Kriegshandlung Erdogans stehen — in den Fällen der Angriffe auf Rojava war das schliesslich nicht anders.

Die Reaktion Armeniens mit der Generalmobilmachung, sowie der Ausrufung des Kriegsrechts deutet darauf hin, dass ein langanhaltender Krieg zumindest nicht ausgeschlossen werden kann. Die aufkommende patriotische Stimmung soll sicherlich auch innenpolitischen Zwecken dienen. Der Krieg um Arzach ist ein Teil der nationalen armenischen Identität und gehört zum Gründungsmythos der jungen Republik.

Auf der anderen Seite leben in Aserbaidschan mehr als 700.000 Vertriebene des Krieges, die seit Jahren vom Präsidenten Ilham Aliyev nichts anderes hören, als dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann Karabach “befreit” werden würde. Aliyevs Erklärungen waren dementsprechend auch wenig überraschend oder neu: “Die aserbaidschanische Armee führt gegenwärtig Schläge gegen die militärischen Stellungen des Gegners aus.“ In mehreren Städten wurde zudem eine Ausgangssperre verhängt.

Es ist eher eine Tat der Verzweiflung, dass der eigentlich säkular eingestellte aserbaidschanische Diktator nun islamistische Söldner braucht, um seinen Krieg zu führen und von den innenpolitischen Probleme abzulenken: Ilham Aliyev, der 2003 das Amt von seinem Vater Heydar Aliyev übernommen hatte, ist alles andere als beliebt im Land und geht schonungslos gegen jegliche Opposition vor. Das Land, das enorm vom Ölexport abhängig ist, macht eine tiefe wirtschaftliche Krise durch, weswegen dieser Angriff wie das Ausspielen der letzten Karte eines in die Ecke gedrängten Diktators erscheint. Mit Erdogan hat er dabei einen fähigen und willigen Unterstützer.

Hovhannes Gevorkian / lcm